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Institute of Political Science and Sociology

Vortrag: Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit

Disclaimer: Im nachfolgenden Veranstaltungsbericht und dem ihm zugrundeliegenden Vortrag ist hauptsächlich von binären Geschlechtern die Rede. Dieser Umstand begründet sich in der bisherigen bildungspolitischen Debatte und Bildungsforschung. Derzeit wird Bildungsgerechtigkeit aber zunehmend auch jenseits binärer Geschlechtsidentitäten diskutiert und erforscht.

Am 11.01.2023 hat die zweite Veranstaltung der Vortragsreihe „Gender & Bildung“ des Arbeitskreis Gender im Wintersemester 2022/23 stattgefunden. Professorin Dr. Hannelore Faulstich-Wieland (Universität Hamburg) hat zu Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit referiert und dabei Einblicke in ihre langjährige Forschungserfahrung in dem Bereich gegeben.

Am Anfang des Vortrags hat Professorin. Faulstich-Wieland die historische Entwicklung der bildungspolitischen Diskussion um Chancengerechtigkeit in Deutschland nachgezeichnet. In den 1960er Jahren gab es Forderungen nach Bildungsreformen zur Herstellung von Chancengleichheit im Bildungssystem, welche die Kategorien Geschlecht, Religion, sozialer und regionaler Herkunft betreffen. Die damals am stärksten in ihren Bildungschancen benachteiligte Gruppe war die sinnbildliche/überzeichnete Figur der ‚katholischen Arbeitertochter vom Land‘. In den nachfolgenden Jahrzehnten gab es aufgrund einer Unterrepräsentanz von Mädchen im deutschen Bildungssystem dann immer wieder Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit, in deren Folge geschlechtergetrennter Schulunterricht seit den 1970er Jahren sukzessive aufgehoben und durch sogenannten koedukativen Unterricht ersetzt wurde. Das Erscheinen der Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2000 offenbarte nicht nur ein schlechtes Abschneiden des deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich, sondern auch, dass nunmehr Jungen die neuen Bildungsverlierer waren – insbesondere solche mit Migrationserfahrung in der Familie.

Insgesamt würden Gender-Fragen immer wieder eine Rolle in bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskursen spielen, dennoch besteht bis heute keine Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Bildungssystem. Professorin Faulstich-Wieland zufolge sind in der Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit im Bildungssystem drei Fragen zentral: (1) Wer ist wie und wodurch benachteiligt? (2) Was ist überhaupt Geschlechtergerechtigkeit? (3) Wie kann das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden?

Zur ersten Frage führte Professorin Faulstich-Wieland aus, dass Jungen und Mädchen im deutschen Bildungssystem an verschiedenen Stellen benachteiligt sind. So verlassen Jungen beispielsweise die Schule häufiger ohne Abschluss (62% vs. 38% im Schuljahr 2020/21) oder mit einem Hauptschulabschluss (60% vs. 40%) und seltener mit dem Erwerb der Hochschulreife (45% vs. 55%) als Mädchen. Die letzten PISA-Studien haben gezeigt, dass Jungen durchschnittlich schlechtere Lese- und kooperative Problemlösungskompetenzen haben als Mädchen, Mädchen hingegen durchschnittlich schlechtere Mathekompetenzen, während bei naturwissenschaftlichen Kompetenzen keine statistisch signifikanten Geschlechterunterschiede aufzufinden sind. Nach Verlassen der Schule nehmen schließlich mehr Männer als Frauen eine Berufsausbildung auf, während bei der Aufnahme eines Studiums Frauen einen leichten Vorsprung haben (52,4% vs. 47,6% im Wintersemester 2021/22). Gleichzeitig unterscheidet sich die Geschlechterzusammensetzung erheblich zwischen den Fächergruppen. So ist der Frauenanteil in Medizin (73,3%) und den Geisteswissenschaften (70,3%) besonders hoch, in den Ingenieurwissenschaften hingegen besonders niedrig (26,0%).

Bezüglich der zweiten Frage nach Geschlechtergerechtigkeit zeichnete Professorin Faulstich-Wieland die verschiedenen Positionen innerhalb der Debatte nach. Auf der einen Seite stehet die Annahme, dass es keine natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gäbe und Geschlechtergerechtigkeit durch Gleichbehandlung erreicht werden könne – z.B. durch koedukativen, d.h. gemeinsamen, Unterricht. Auf der anderen Seite steht die Annahme, dass es sehr wohl geschlechtsspezifische Besonderheiten und Unterschiede gäbe, die im Unterricht  Relevanz haben. Professorin Faulstich-Wieland arbeitete einige Probleme beider Positionen heraus. Dazu zählen unter anderem, die verbreitete Annahme von Zweigeschlechtlichkeit, das Ausblenden der großen Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern, die Tatsache, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechter meist größer sind als zwischen ihnen sowie die Annahme, dass Geschlechterunterschiede nicht das Ergebnis von Sozialisationsprozessen sind, sondern vermeintlich „natürlich“.

Zur Beantwortung der dritten Frage stellte Professorin Faulstich-Wieland diverse nationale und internationale empirische Forschungsergebnisse vor, z.B. zum Zusammenhang zwischen Mono- bzw. Koedukation und gendergerechtem Unterricht. In einer eigenen Studie hatte Professorin Faulstich-Wieland die (Re-)Produktion von Geschlechterstereotypen im Technikunterricht an einer österreichischen – nach Aussage der Schule gendersensiblen – Schule untersucht. Im Rahmen ethnografischer Beobachtungen des Unterrichts einer reinen Mädchengruppe und einer geschlechtergemischten Gruppe wurde das Verhalten der Lehrkraft in den beiden Gruppen analysiert. Es zeigte sich, dass sich der Unterricht zwischen den beiden Gruppen deutlich unterschied und die Lehrkraft durch ihr Verhalten unbewusst dazu beitrug, Geschlechterdifferenzen und -stereotype herzustellen. Das eindrückliche Beispiel verdeutlichte, dass Lehrkräfte häufig voreingenommen sind und ihre impliziten Geschlechterannahmen unbewusst in den Unterreicht einfließen lassen – auch trotz guter Intention.

Abschließend bekräftigte Professorin Faulstich-Wieland daher noch einmal, dass Gendersensibilität nur durch eine Balance zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht erreicht werden kann. Das heißt einerseits, dass sich Lehrkräfte über ihre eigenen, internalisierten Geschlechterstereotype und -vorstellungen bewusst sein müssen (Dramatisierung), gleichzeitig aber alle Kinder in ihrer Individualität und ohne permanenten Rekurs auf ihr Geschlecht wahrnehmen und behandeln müssen (Entdramatisierung). Dabei handelt es sich um einen Lernprozess und zugleich Balanceakt, für den die Bildungspolitik heute und zukünftig die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen muss.

Der AK Gender bedankt sich bei Professorin Dr. Hannelore Faulstich-Wieland für den spannenden Vortrag und den Teilnehmenden für Ihr Interesse.