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Institute of Political Science and Sociology

Goffman Studies – Das Projekt

Erving Goffman gilt nicht nur als Klassiker der Soziologie, sondern ist einer der wenigen Soziologen des 20ten Jahrhunderts, dessen Arbeiten gleich in mehreren, heute zum Kanon der Sozialwissenschaften gehörenden Forschungszweigen als Gründungstexte rezipiert werden (vor allem Gender Studies, Soziologie der Geschlechterdifferenz, Diskriminierungs- und Stigmaforschung, Dis/ability Studies, Konversationsanalyse, Visuelle Ethnografie, Psychiatriekritik, Labeling Approach u.v.m).

Jährlich erscheinen neue Bücher, die nicht nur seinen Ansatz aufgreifen und sich auf ihn beziehen, sondern seine ungebrochene Aktualität verdeutlicht sich auch durch einen immer größer werdende Menge an Einführungswerken in seinen Ansatz. Überraschend an der Goffman Rezeption bleibt daher, dass bisher weder alle Texte veröffentlicht wurden noch alle veröffentlichten Texte ins Deutsche übersetzt wurden. Ebenso fällt auf, dass sich die bisherige Goffmanrezeption aus einem auffällig kleinen Text- und Datenkorpus speist. Ernsthafte Versuche, Goffmans Arbeiten auf Basis seiner Schriften, Affiliationen, Arbeitskontexte und ähnlichem zu analysieren sind selten oder beschränken sich zumeist auf Einzelaspekte.

Wirft man den Blick auf die Verbreitung seiner Schriften, die Übersetzungen in andere Sprachen, die Auflagen seiner Bücher und vor allem die immer weiter und schneller steigende Menge an Sekundärliteratur sowie damit einhergehend die steigende Häufigkeit an Referenzen auf Begriffe und Konzepte Goffmans, dann steht die Aktualität Goffman nicht in Frage. Zugleich wird daran aber eine erhebliche Diskrepanz deutlich zwischen der Erschließung und umfassenden Analyse sowie Kenntnis des Gesamtwerkes auf der einen Seite und der genannten, sich immer weiter expandierenden Referenz auf einzelne Aspekte dieses Werkes auf der anderen Seite.

Entgegen des Eindrucks, der aufgrund der Überpräsenz von Goffmanreferenzen entstehen könnte, steht das, was man als ernstzunehmende Goffman-Forschung bezeichnen könnte, noch am Anfang. Die extensive und sich oft selbst genügende Referenz auf Einzelaspekte des Goffmanschen Begriffsapparats geschieht zumeist ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Eingebettetheit in das Gesamtwerk und führt so zum Teil zu einer regelrechten Banalisierung der Goffmanschen Theoriekonzeptionen. Das, was als Goffmanforschung antritt, erschöpft sich nicht selten in der Referenz auf solche isolierte Einzelaspekte oder aber in einer rein an Aktualitäten sich entfachenden Verwendung von Theoriebruchstücken sowie dem mittlerweile zum Standartrepertoire populärsoziologischer Sprachspiele geronnenen Rekurs auf bestimmte Schlagworte und Komposita wie bspw. ›Soziologie der Interaktionsordnung‹, ›Rituelle Ordung des Alltags‹ oder ›Imagemanagement‹ – allerdings ohne dass dabei deutlich würde, was mit diesen Konzepten jeweils genau umfasst werden kann, wie sich diese Phänomene von anderen abgrenzen, wie sie sich in die Gesamtarchitektur der Theorie Goffmans einordnen oder für welche Probleme sie von Goffman als – wenn auch teils nur vorläufige – Lösung eingesetzt wurden. Stattdessen lässt sich beobachten, dass das, was als Goffmanforschung bezeichnet wird, sich häufig in der Sammlung und Interpretation dessen erschöpft, was am ehesten als Oral History zu bezeichnen wäre: Erzählungen, Erinnerungen und Erlebnisse von Personen, die in einer wie auch immer gearteten zeitlichen oder räumlichen Nähe zu ihm standen.

Angedenk dieser Diskrepanz verfolgen die Goffman Studies das Ziel, erste Schritte in Richtung einer umfassenderen Goffmanforschung zu gehen. Es sollen weitere Ansätze in der Bearbeitung seines Werkes vorgeschlagen, ausprobiert und zur Diskussion gestellt werden, um so einen breiteren Zugang zum Theorieansatz Goffmans zu ermöglichen. Dabei bewegt sich das Vorhaben insgesamt in Richtung der Frage, inwieweit die von Goffman dargelegten Problemstellungen und Lösungsvorschläge noch für heutige Problemkontexte nutzbar gemacht werden können und welche Entwicklungsmöglichkeiten sich für daran anschließende Arbeiten ergibt.

Zu diesem Zweck sind neben der kommentierten Edition der ausgewählten Schriften Goffmans (bestehend aus Erst- und Neuübersetzungen) sowie der Schriftenreihe "Goffman Studien" (beides in enger Kooperation mit dem transcript Verlag), die Anlage eines Goffman Forschungsarchivs, die Etablierung eines Forschungskolloqiums am Institut, die Auslotung bisher unbeachteter Anschlussmöglichkeiten der goffmanschen Theorie für die Bereiche der visuellen Soziologie, den Gender- und der Dissabilitystudies sowie entsprechende Fachveranstaltungen, Tagungen und Workshops geplant. Dieses Gesamtprogramm möchte zugleich einen Rahmen für mögliche Qualifikations- und Forschungsarbeiten anbieten, die sich in diesem Kontext verorten lassen.