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Institut für Politikwissenschaft und Soziologie

Vortrag: Gender & Medizin: Mädchen und Frauen aus dem Autismus-Spektrum

Am 22.11.2023 hielt Manuela Schmied einen Vortrag im Rahmen des AK Genders zum Thema „Gender und Medizin – Mädchen und Frauen aus dem Autismus-Spektrum“. Ergänzend teilte Nadine Amend ihre persönlichen Erfahrungen mit ihrer Diagnose und alltägliche Situationen aus ihrem Leben.

Hinweis Kontakt: Das Autismus Kompetenzzentrum Unterfranken berät, informiert und vernetzt Autist:innen, deren Angehörige und Institutionen, die sich näher mit dem Thema Autismus-Spektrum auseinandersetzen möchten (https://www.autismus-unterfranken.de/).

Im Vortrag wurde entlang des Leitgedankens, dass Mädchen und Frauen mit Autismus als Minderheit einer Minderheit doppelte Benachteiligung erfahren, umfassend präsentiert, wie sich eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeigt und wie typische Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklärt werden können.

ASS werden in der ICD-11 durch verschiedene Diagnosen abgebildet, welche alle gemeinsam haben, dass Autismus nicht heilbar ist und keine zeitweise Abschwächung oder Aussetzung der Krankheit erfolgt. Im deutschsprachigen Raum beziehen sich die Diagnosen aktuell noch auf die ICD-10.

Die innerhalb der ICD-11 festgelegten Kernsymptomatik umfassen Kommunikation, soziale Interaktion und Verhalten. Die im Vortrag angeführten Beispiele für jene Symptome von ASS, verdeutlichen, was eine Diagnose im Bereich ASS für die individuelle Person bedeuten kann. Bereits in einem Alter von ca. einem Jahr können erste Hinweise für eine ASS vorliegen. Unter anderem können ein mangelnder Blickkontakt, seltenes Zeigen mit dem Finger oder Rückschritte in der sprachlichen und sozialen Entwicklung darauf hindeuten. Des Weiteren zeigen Personen mit Autismus qualitative Beeinträchtigungen in Kommunikation und Sprache sowie in der wechselseitigen Kommunikation und Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Für die Flexibilität von Verhalten können ein eingeschränktes, sich wiederholendes Verhaltensrepertoire, ungewöhnliche Interessen sowie Besonderheiten bei den sensorischen Wahrnehmungen aufgeführt werden.

In der Bevölkerung sind rund 1-2% von ASS betroffen. Dabei deuten die Zahlen auf eine biologisch männliche Prävalenz hin, da im Geschlechterverhältnis Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen (je nach Studie, Alter und Ausprägung der ASS zwischen 2:1 und 11:1).

Die Diagnose von ASS bei Mädchen und Frauen stellt dabei ein viel diskutiertes Thema dar. Das Problem besteht darin, dass Jungen und Männer häufiger betroffen sind und sich viele Diagnosekriterien auf die männliche Ausprägung des Autismus beziehen. Somit muss der Frage nachgegangen werden, welche frauenspezifischen Merkmale auf eine ASS hindeuten und wie von ihnen auf eine Diagnose abgezielt werden kann. Aktuell werden für die Diagnose Psychometrische Testverfahren (z. B. ADI-R) oder Beobachtungssysteme (z. B. ADOS) eingesetzt. Für das ADOS-Verfahren konnte von Kamp-Becker nachgewiesen werden, dass es Männer und Frauen gleichermaßen identifizieren kann, insofern es richtig angewendet wird.

Zwischen biologisch männlichen und weiblichen von ASS Betroffenen können verschiedene Unterschiede herausgestellt werden, welche darauf hindeuten, dass die Diagnose von Mädchen und Frauen erschwert sein kann. Mit zu den typischen Unterschieden zählen:

  • Mädchen/ Frauen werden häufiger als „seltsam“ wahrgenommen und nicht als umfassend beeinträchtigt.
  • Mädchen/ Frauen sind in der Regel ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren.
  • Mädchen/ Frauen zeigen eher passives Verhalten und Rückzug.
  • Bei Mädchen/ Frauen fallen soziale und kommunikative Schwierigkeiten erst im Jugend- und jungen Erwachsenenalter auf.
  • Mädchen/ Frauen können ihre Schwierigkeiten besser kompensieren.
  • Mädchen/ Frauen haben größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen.

Diese Beispiele führen bereits zu der Frage, ob autistische weibliche Personen tatsächlich besser angepasst sind und welchen Anteil daran geschlechtsspezifische Sozialisation und welchen Anteil Autismus daran hat.

Für Personen mit einer Geschlechtsdysphorie konnte ein Zusammenhang mit dem Auftreten von einer ASS nachgewiesen werden. 3-26% der Menschen mit einer vordergründigen Diagnose der Geschlechtsdysphorie besitzen zusätzlich eine Autismus-Diagnose.

Abschließend nimmt der Vortrag Bezug auf die Ursachen der ASS, welche sich auf genetische Faktoren, biologische Faktoren und Umweltbedingungen, die das Auftreten begünstigen, zusammenfassen lassen. Für kognitive Besonderheiten der von ASS Betroffenen liegen drei verschiedene neuropsycholgische Erklärungsmodelle vor. Die Theory of Mind bezieht sich auf die Fähigkeit, das eigene und fremdes Verhalten und erleben zu erkennen, zu verstehen und die damit verbundenen Informationen zu nutzen, um darauf reagieren zu können. Defizite im Bereich der Theory of Mind lassen sich nicht nur auf ASS, sondern beispielsweise auch auf ADHS/ ADS zurückführen. Mangelndes Erfassen der eigenen Emotionen und der Emotionen von anderen Menschen sowie mangelndes Bewusstsein für soziale Normen beschreiben Besonderheiten bei Autismus. Der Ausdruck „Den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen“ kann für die Erklärung einer schwachen Kohärenz hinzugezogen werden. So ist die natürliche Tendenz, vorhandene Reize global im Gesamtkontext zu verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden um die bedeutungsvollere Information zu erfassen, bei Autist:innen nur schwach vorhanden, sodass die Umwelt nicht in einen Gesamtzusammenhang gesetzt werden kann. Das führt dazu, dass viele Einzelreize detailorientiert aufgenommen und gespeichert werden oder auch lokale Verarbeitungsstrategien globalen Strategien vorgezogen werden. Eine Beeinträchtigung der Exekutiven Funktion, welche für alle kognitiven, zukunftsorientierten Prozesse verantwortlich ist, zeigt sich unter anderem in Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Plänen in strukturiertes Verhalten.

Statt eine defizitorientierte Haltung gegenüber Personen mit einer ASS einzunehmen, erweitern Manuela Schmied und Nadine Amend den Blick, indem besondere Fähigkeiten oder Interessen in bestimmten Bereichen gezielt eingesetzt werden können. Personen mit einer ASS können den Fokus auf Konkretes legen und so Unterschiede aufdecken sowie weniger bedeutsame Aspekte berücksichtigen.

Wir danken Manuela Schmied und Nadine Amend für die interessanten Einblicke sowohl in die Forschung zu dem Thema als auch eigenen Erfahrungsberichten. Der Vortrag wurde durch eine angeregte und wertschätzende Diskussion abgerundet.