English Intern
Institut für Politikwissenschaft und Soziologie

Beteiligung für mehr Nachhaltigkeit? Die Rolle von Bürger:innenräten für Nachhaltigkeitstransformationen

Bei einer sehr gut besuchten Online-Vortrags- und Diskussionsrunde am 04.12.2023 diskutierten Gäste aus Wissenschaft und Praxis vielfältige Perspektiven auf das Beteiligungsinstrument Bürger:innenräte. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Frage, welche Rolle Bürger:innenräte für Nachhaltigkeitstransformationen spielen können und wie die Möglichkeiten und Grenzen dieses Formats zu bewerten sind.

Als Gäste für den Abend konnten Prof. Dr. Miriam Hartlapp (Professur Vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Deutschland und Frankreich, Freie Universität Berlin), Dr. Rikki Dean (Democratic Innovations Research Unit, Goethe Universität Frankfurt), Prof. Dr. Andreas Schäfer (Lehrbereich Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Rabea Koss (BürgerBegehren Klimaschutz e.V.) und Ralf Holler (Teilnehmer am 2021 durchgeführten Bürgerrat Klima) gewonnen werden. Nach Impulsvorträgen der geladenen Expert:innen gab es im Anschluss eine lebendige und umfassende Frage- und Diskussionsrunde. 

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Paul Polivka, Masterstudent der Sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung. Nach einer Begrüßung und Einführung startete der Abend mit dem Impulsvortrag von Prof. Dr. Andreas Schäfer. Als Problemstellung wurden der Trade-off zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Nutzen in Bezug auf demokratische Prozesse und nachhaltige Entscheidungen sowie der "Präsentismus" von Demokratien skizziert, der sich im begrenzten Zeithorizont der Wähler:innen, gewählten Entscheidungsträger:innen und Interessensgruppen äußert. Prof. Schäfer beschrieb Merkmale und Potenziale von Bürger:innenräten als mögliche Instrumente zur Bewältigung dieser Herausforderungen – darunter die angestrebte Repräsentation aller Gesellschaftsgruppen und die Freiheit von elektoralem Wettbewerb als Chance für eine unabhängigere Meinungsbildung. Außerdem ging er auf die Top-down vs. Bottom-Up-Initiierung der Räte sowie die weitgehende Unabhängigkeit von organisierten Interessen ein. Konkretisiert wurden diese Punkte am aktuell auf Bundesebene laufenden Bürger:innenrat „Ernährung im Wandel“. 

Es folgte ein Input von Dr. Rikki Dean, der insbesondere die Frage ins Zentrum stellte, wie begrenzt die Einflussmöglichkeiten von Bürger:innenräten im Sinne des Anstoßens und der Durchsetzung tatsächlich radikaler Nachhaltigkeitstransformationen sind. Ein zentraler Aspekt, um die positive Wirkung von Bürger:innenräten zu erhöhen, sei eine stärkere Rückbindung und Umsetzung der von in solchen Formaten erarbeiteten Lösungen im politischen System. Auf einer grundsätzlichen Ebene stellte Dr. Dean die These in den Raum, dass Bürger:innenräte selbst bei optimaler Umsetzung immer als Instrument innerhalb eines bestehenden, in kapitalistische Strukturen eingebetteten demokratischen Systems fungieren und diese Systemgrenzen naturgemäß schlecht mit radikalen Änderungsvorschlägen sprengen können – auch da die Umsetzung tiefgreifender Transformationen durch die Politik innerhalb eines von Wachstum getriebenen Systems kaum möglich sei. 

Der anschließende Vortrag kam von Prof. Dr. Miriam Hartlapp, die anhand der in Deutschland und Frankreich durchgeführten Klima-Bürger:innenräte darüber sprach, ob solche Formate für die Behebung von Repräsentationsdefiziten geeignet seien. Ausgangspunkt hierfür war die Feststellung, dass sowohl Frauen als auch Menschen mit Migrationshintergrund und Personen aus der Arbeiter:innenklasse im politischen System deutlich unterrepräsentiert sind. Anhand ihrer Forschungsergebnisse zur Untersuchung der Repräsentation dieser Gruppen durch Bürger:innenräte konstatierte Hartlapp, dass trotz der Bemühungen durch deliberativ-partizipative Bürgerforen keine vollständige Kompensation für strukturelle politische Ungleichheiten erreicht wurde. Es bleibe also eine Herausforderung, die bestehenden Repräsentationslücken zu schließen und eine ausgewogenere politische Teilhabe zu ermöglichen. Sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus praktischer Perspektive besteht die zentrale Frage darin, die Funktion von Bürger:innenräten im politischen System zu definieren.  

Der letzte Impulsvortrag kam von Rabea Koss von der Organisation Bürgerbegehren Klimaschutz e.V., die als Beispiel für einen bundesweit durchgeführten Bürger:innenrat den Bürgerrat Klima aus dem Jahr 2021 genauer vorstellte und über die Möglichkeiten und Grenzen dieses Formats für die Erreichung ambitionierterer Klimapolitik sprach. Koss zufolge bieten Bürger:innenräte die Chance, durch die Beteiligung am politischen Prozess höhere Akzeptanz für klimapolitische Maßnahmen zu schaffen. Als eine zentrale Herausforderung identifizierte sie dabei, wie schon die Vorredner:innen, die Verbindlichkeit der erarbeiteten Empfehlungen für die Politik. 

In der folgenden von Jun.-Prof. Dr. Ulrike Zeigermann geleiteten Diskussionsrunde gab es einen spannenden Austausch zu den in den Impulsvorträgen angesprochenen Möglichkeiten und Grenzen der Bürger:innenräte. Zunächst gab Ralf Holler interessante Einblicke in den Prozess des Bürgerrates Klima aus der Perspektive eines Teilnehmers. Anschließend wurden Fragen aus dem Publikum beantwortet. 

Die Veranstaltung wurde organisiert unter der Leitung von Paul Polivka, Jun.-Prof. Dr. Ulrike Zeigermann und dem Team des Forum Nachhaltigkeit. Gefördert wurde sie vom Human Dynamics Center der JMU. Die Veranstaltung kann hier nachgehört werden:

Audio